M. Jahoda: Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen

Titel
Lebensgeschichtliche Protokolle der arbeitenden Klassen 1850–1930. Dissertation 1932, hrsg. v. Bacher, Johann; Kannonier-Finster, Waltraud; Ziegler, Meinrad


Autor(en)
Jahoda, Marie
Reihe
transblick 13
Erschienen
Innsbruck 2017: StudienVerlag
Anzahl Seiten
388 S.
Preis
€ 26,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Graz

Marie Jahoda ist neben Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel bekannt als Mitautorin der Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langdauernder Arbeitslosigkeit", erschienen in Leipzig 1933.

Ein Blick auf ihre Biographie zeigt, dass sie als drittes von vier Kindern neben ihren Brüdern in einer bürgerlichen und assimilierten jüdischen Wiener Familie (ihr Vater ist Gesellschafter der Firma Carl Jahoda, Spezialgeschäft für technische Papiere und Utensilien) aufwächst und 1926 am Wiener Mädchen-Realgymnasium des Vereins für Realgymnasialen Mädchenunterricht maturiert. Das Jahr 1925 markiert den Zeitpunkt ihres Austrittes aus der Israelitischen Kultusgemeinde. Früh schon widmet sich Marie Jahoda mit Engagement dem Verband Sozialistischer Mittelschüler; hier lernt sie auch den damaligen Lehrer und späteren (1926 bis 1934) Ehemann, Paul Felix Lazarsfeld, kennen. Dieser Ehe entstammt Marie Jahodas einziges Kind, Lotte Franziska, verheiratete Bailyn, die Bekanntheit als Professor of Management an der Sloan School of Management des Massachusetts Institute of Technology erlangt. Marie Jahoda, die ihren Geburtsnamen beibehält, beginnt ein Doppelstudium. Einerseits belegt sie das Fach Psychologie an der Universität Wien, andererseits besucht sie den Hochschulmäßigen Lehrerbildungskurs des Pädagogischen Instituts der Stadt Wien, den sie 1926 als provisorische Lehrerin für Volks- und Bürgerschulen sowie als Kindergärtnerin ausgebildet abschließt. Als 21-Jährige verlässt Marie Jahoda Wien für ein Jahr, um in Paris Vorlesungen an der Sorbonne zu hören. Das Studium der Psychologie beendet sie 1932 mit ihrer Dissertation "Anamnesen im Versorgungshaus (Ein Beitrag zur Lebenspsychologie)".

In dieser Zeit ist Jahoda politisch innerhalb der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aktiv, so bis 1934 als Stellvertretende Sekretärin des "Arbeitskreises sozialistischer Pädagogen" und ebenso lange als Bibliothekarin an der Arbeiterbücherei im Karl-Marx-Hof. Durch ihr politisches Engagement wird Jahoda erstmals 1929 polizeilich aktenkundig, als sie 1929 als politische Aktivistin an einer Streikaktion der Beschäftigten des Wiener Cafés Prückel teilnimmt. Seit 1922 ist Marie Jahoda auch literarisch tätig, als Verfasserin von Gedichten gehört sie der anfangs 1933 gegründeten "Vereinigung sozialistischer Schriftsteller" an, die allerdings 1934 durch den faschistoiden Ständestaat aufgelöst wird.

Seit 1932 ist Marie Jahoda an der von ihrem Mann Paul F. Lazarsfeld initiierten und mit dem Psychologischen Institut der Universität Wien assoziierten "Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" tätig. In diese Zeit fällt auch ihre Mitarbeit beim Projektteam der Marienthal-Studie, deren wesentlichster Text aus ihrer Feder stammt. Gemeinsam mit Gertrude Wagner leitet sie seit 1934 diese Forschungsstelle in wissenschaftlicher Hinsicht. Von 1932 bis 1934 ist sie zusätzlich Mitarbeitende von Otto Neurath am "Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum", weiters wirkt sie 1933/34 als Aushilfslehrerin an diversen Volks- und Hauptschulen in Wien. Als ausgewiesene Sozialdemokratin wird Jahoda ab November 1934 allerdings nicht länger als Lehrerin weiterbeschäftigt. 1935 wird auch der Verein "Österreichische Wirtschaftspsychologische Forschungsstelle" aufgelöst. Vor diesem Hintergrund gründet Jahoda diese Institution neu, jetzt als Gesellschaft nach Bürgerlichem Recht und fungiert als deren alleinige Leiterin.

1933 bis 1936 betätigt Marie Jahoda sich in der linken sozialistischen Bewegung in Österreich, zuerst aktiv in der Gruppe "Der Funke", die 1935 in den von Joseph Buttinger geleiteten "Revolutionären Sozialisten" aufgeht. Durch ihre enge Freundschaft mit Buttinger wirkt Jahoda im unmittelbaren Führungsbereich dieser nicht unbedeutenden sozialistischen Untergrundorganisation während des österreichischen Ständestaates. So wird auch das Büro der "Arbeitsgemeinschaft der Mitarbeiter der Österreichischen Wirtschaftspsychologischen Forschungsstelle" von ihr zur Verfügung gestellt, es dient als Kontaktstelle zwischen der verbotenen Sozialdemokratie im österreichischen Untergrund und jener im tschechoslowakischen Exil. Am 27. November 1936 erfolgt durch eine Denunziation eine Hausdurchsuchung, gemeinsam mit etlichen anderen wird Jahoda in Untersuchungshaft genommen und am 2. Juli 1937 – nach Ablegung eines Teilgeständnisses – verurteilt man sie zu drei Monaten Kerker. Internationale Proteste – auch durch den französischen Ministerpräsidenten Léon Blum – bleiben nicht aus, am 15. Juli entlässt man Marie Jahoda aus der Haft unter der Bedingung, Österreich zu verlassen.

1937 geht Marie Jahoda nach London ins Exil, wo sie ihre Arbeit als Sozialwissenschaftlerin weiterführt. Seit 1940 lebt sie bis Kriegsende in London und ist im Rahmen des British Foreign Office Redakteurin und Sprecherin des Geheimsenders "Radio Rotes Wien" in Woburn. 1943/44 ist sie Mitarbeiterin beim National Institute of Social and Economic Research und 1944 Angestellte des Research co-ordination Department der Firma "Marks and Spencer Limited" in London.

Im Jahr 1945 emigriert sie in die USA und arbeitet bis 1948 als Research Associate bei Max Horkheimer am Department of Scientific Research des "American Jewish Committee", 1948/49 als Research Associate bei dem von ihrem geschiedenen Ehemann Paul F. Lazarsfeld gegründeten Bureau of Applied Social Research der Columbia University in New York. Eine universitäre Karriere beginnt sie 1949, als sie zunächst Associate, dann Full Professor of Psychology an der New York University wird.

Ihre Heirat mit Austen Harry Albu, Labour-Politiker und Minister of State am Department of Economic Affairs 1965–1967 bringt Marie Jahoda 1958 nach London zurück. Im gleichen Jahr wird sie Research Fellow am Brunel College of Advanced Technology in Uxbridge bei London. Mit der Umwandlung in eine Universität wird sie hier 1962 Professor of Psychology. 1965 erfolgt ihre Berufung als Professor of Social Psychology an die University of Sussex in Falmer, wo sie das erste Department of Social Psychology in Großbritannien aufbaut. Ihre Emeritierung erfolgt 1973, doch bleibt sie ihrer Universität in vielfältiger Weise verbunden. Bis zu ihrem Tod 2001 lebt Marie Jahoda in Keymer, West Sussex, in Großbritannien.

Neben Jahodas Dissertation enthält der vorliegende Band weitere Beiträge: Helga Nowotny thematisiert Marie Jahoda und Wien als City of the Century; Georg Hubmann geht auf den historischen Text in aktueller Annäherung ein; Meinrad Ziegler bringt eine Analyse der Dissertation Jahodas; Josef Ehmer kontextualisiert die Lebensgeschichten aus der Dissertation Jahodas und geht näher auf die sozial-ökonomische Entwicklung Wiens in der Zeit von 1850 bis 1930 ein; Rainer Bartel ist der Verfasser der Chronik zur Lebensspanne der von Jahoda für die Dissertation Befragten; von Christian Fleck stammt das Portrait Jahodas und Reinhard Müller bringt Details ihres Lebenslaufs und ihre Bibliographie.

Nähert man sich Marie Jahodas Dissertation, stellt man fest, dass diese bei Charlotte Bühler, die sich nach Abschluss ihrer entwicklungspsychologischen Studien über Kindheit und Jugend nun dem Lebenslauf widmet, verfasst wird. Nicht wenige Hinweise deuten darauf hin, dass Jahodas Dissertation vor dem Hintergrund der bestehenden Umstände nicht auf einen unmittelbaren Auftrag Charlotte Bühlers zurückgeht. Für Jahoda scheint allerdings dieser Zugang über Charlotte Bühler der attraktivste zu sein, dies beweist auch die Tatsache, dass sie für ihre Arbeit gleichsam ihr eigenes Design entwickelt. Während Charlotte Bühlers Lebensläufe ausschließlich aus dem bürgerlichen Milieu stammen und größtenteils aus Sekundärliteratur bestehen, ist Jahodas Intention eine andere. Sie beabsichtigt die Überprüfung des Modells im alltäglichen Leben, dazu braucht sie Lebensläufe von einfachen, alten und lebenserfahrenen Männern und Frauen aus werktätigen Schichten, die sie in mehreren Wiener Versorgungshäusern (dabei handelt es sich um soziale Einrichtungen für mittellose Menschen) erhebt. Die Entscheidung, so zu handeln, entspricht ihrer Weltanschauung, dass Politik und Wissenschaft sich den Lebensproblemen arbeitender Menschen widmen müssen. Bühlers Modus, sich nur auf eine einzige, die bürgerliche Schicht zu stützen, empfindet sie hingegen als einseitig. In späteren Jahren wird sie ihre Vorgehensweise als „lebensnahe Forschung” interpretieren. Dadurch erweist sich Jahoda als Pionierin, an der sich viele Nachfolgende orientieren sollen. Ihre wenig strukturierten Interviews haben standardisierte Einstiegsfragen und abschließende, resümierende Endfragen. Wenn der Erzählende ins Stocken gerät, greift sie zu „Ergänzungsfragen”. Ihre Methode ist vergleichbar mit dem heute in der qualitativen Forschung etablierten sogenannten Leitfadeninterview, bei dem der Leitfaden je nach konkretem Ablauf des Gesprächs flexible Anwendung findet.

In ihrer Dissertation ist Marie Jahoda in den theoretischen Rahmen der Lebenspsychologie Charlotte Bühlers eingebunden. Zwei Umstände sprechen dafür, dass es sich bei Jahodas Dissertation um ein bemerkenswertes Dokument in der Entstehung der empirischen Sozialforschung im deutschen Sprachraum handelt: Einmal gelingt es ihr, ein innovatives Verfahren zur Erhebung empirischer Daten zu entwickeln. Der zweite Umstand betrifft das Verhältnis von Hypothesen und empirischen Daten, in dem sie das Fünf-Lebensphasen-Modell Bühlers bestätigt, gleichzeitig aber darauf verweist, bei der Interpretation lebensgeschichtlicher Daten auch sozialpsychologische und kulturelle Faktoren stärker zu betonen.

Die Absicht der Publikation, die Persönlichkeit Marie Jahodas und ihre bahnbrechende Dissertation vor dem Vergessen zu bewahren, ist absolut geglückt. Indem sie ihren Fokus nicht allein auf die Wissenschaft, sondern auch auf die Betroffenen und deren reale Probleme und Nöte im Alltag legt, muss Marie Jahoda als eine hervorragende Wissenschafts-Repräsentantin bezeichnet werden. Ihr Leben zeigt sie als eine Persönlichkeit wissend um Existenznöte und nahe am Humanen des Alltäglichen. In der Gegenwart ist dies ein rares Gut geworden: Möge sie uns diesbezüglich als Vorbild dienen!

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